17. Juni – Von Aufstand und Aufstehen

Wohlan, frischauf, hopp – und was es noch so für Ausdrücke gibt: Heute ist ein denkwürdiger Tag.

Der 17. Juni. Volksaufstand der Werktätigen in der DDR. Es ging um die katastrophale Mangelwirtschaft und letztlich um die Erhöhung der Arbeitsnormen, faktisch eine Lohnsenkung. Es sollte wohl eine Art Geburtstagsgeschenk für den Genossen Walter Ulbricht sein. Mehr Details hier.

69 Jahre ist das schon her. Manche wissen vielleicht heute nichts mehr davon, da sie noch ganz schön jung sind. Die feierwütigen Unter-30-Jährigen, die jedes Wochenende brüllend den Kiez verwüsten, schon mal gar nicht. Ist aber auch schwierig: ein Gedenktag im Zusammenhang mit einem Land, das es nicht mehr gibt.

Dennoch gibt es gewisse Parallelen zu heute: Keiner kann mehr was bezahlen, die Werktätigen stehen auf (weil der 17. Juni kein Feiertag mehr ist) und sowjetische, äh, heute russische Panzer schießen auf Zivilisten. Zwar nicht auf der Leipziger Straße in Berlin-Mitte, aber immerhin.

Der Aufstand von 17. Juni 1953 führt mich zur Feststellung, wann ich heute aufstand.

Es war sehr, sehr früh. Also für einen Werktätigen, der sich sonst erst viel später in das etwa 6 Meter entfernte Homeoffice begibt. Aber heute habe ich frei.

Und ich habe ein 9-Euro-Ticket. Das gilt bundesweit in allen Regiozügen, S- und U-Bahnen. Und zwar den ganzen Juni hindurch. Eine Hilfsmaßnahme des Ministerrats, äh, des Zentralkomitees … was denn nun? Ach ja: der Bundesregierung. Um dem monströs gestiegenen Benzinpreis etwas entgegenzusetzen. Zwar wurde auch hier ein erklecklicher Steuerrabatt beschlossen (nach Monaten, nicht etwa nach Stunden, wie z.B. in Polen). Leider aber merkt durch Formal-Versäumnisse der tankende Autofahrer davon nichts. Doch das ist eine andere Geschichte.

Der aufständische bzw. aufstehende Tarzan fährt heute also einfach mal sehr grün elektrisch mit dem Regio-Zug nach Frankfurt. Das Auto steht sich weiter vor der Haustür die Reifen platt.

Sicher zum Ärger der links-grünen Autohasser-Fraktion. Die moniert ja immer sehr laut, dass die „Blechkisten“ 23 Stunden am Tag nur „rumstehen“. Da könnten wir doch alle mal, hellwach natürlich und mit Proviant dabei, unsere „Blechkisten“ starten und 24 Stunden lang ununterbrochen kreuz und quer durch die Stadt fahren. Und ich wette, dann wäre es auch wieder nicht recht. Bei ideologischen Hass-Fanatikern ist gelegentlich schwer zu durchschauen, was sie gerade wollen.

So, 8.35 Uhr. Frankfurt/Oder ist erreicht. Elektrisch, grün, pünktlich. Was will ich hier?

Ganz einfach: Ich war noch nie da. Eigentlich könnte mich das 9-Euro-Ticket auch nach Neustrelitz oder Magdeburg bringen. Die liegen allerdings nicht an der polnischen Grenze, und ich gebe zu: Ich will auch einen Spaziergang nach Slubice „drüben“ machen. Zum großen „Bazar“. Nur mal gucken.

Erst mal aber stoße ich auf ein fürchterliches Nazi-Symbol. Nicht weit vom Bahnhof, groß wuchtig, auf der Spitze der Stele thront der Reichsadler. Das ist doch, ohne jede Erläuterung, ganz, ganz „politisch unkorrekt“?

Entwarnung: Es ist ein Mahnmal für im Ersten Weltkrieg gefallene Eisenbahner. Die Männer also vom „Flügelrad“, es ist das Symbol der Eisenbahner-Zunft. Und das sieht von fern wie der geflügelte Reichsadler aus. Merke: Erst näher hinsehen, nachdenken, dann rummotzen. Wäre schön, wenn auch so mancher in Berlin … nee, lassen wir das.

Wandern am „Oderarm“ entlang, bis selbige dazukommt. Ein Ausflugsschiff startet gerade, lt. Info-Tafel geht es zur Autobahnbrücke der A 12. Das wird wohl ein Erlebnis sein. Und nach dem Bewundern der schicken neuen Häuschen am Leopoldufer kann ich, wie auf jeder Reise, etwas lernen.

Die „Viadrina“, also die „an der Oder gelegene“, so nennen sie alle Studierenden, Einwohner und sonstwer: die Europa-Universität. „Viadrus“, der vergessene Gott der Oder, gibt einfach mehr her als der offizielle Name. Die Studenten-Mensa ist eher hässlich, bei der Nach-Recherche wundert mich, dass dies pompöse Bauwerk (oben) gar nicht zur „Viadrina“ gehört, sondern bloß den „AWO Bezirksverband Brandenburg Ost“ beherbergt.

Über die Stadtbrücke nach Slubice. Ebenso wie in Görlitz oder Schwedt interessiert sich niemand für meine Grenzpassage. Hurra, Europa!

Entlang der Straße 29 nach Krosno Odrzanskie (man könnte auch Crossen an der Oder sagen, aber dann gibt’s wieder Gezänk) fallen mir diverse „Starenkästen“ auf. Gemeinhin als Radarfallen bekannt, aber dies sind wirklich Vogelhäuschen. Oder eben auch nicht.

Alle Vogellöcher schauen auf die Straße 29. Sind die Slubicer Bürger wirklich so tierlieb? Oder verbirgt sich hinter irgendeinem der Kästen vielleicht etwas ganz anderes?

Schockierend auch der Blick auf die Tankstelle: Die schöne 5 vor dem Komma ist verschwunden (die sich der einstige Grünen-Minister Jürgen Trittin ja so sehr wünschte). Nun nähert es sich der 8. Schon gut, es sind polnische Zloty.

Der legendäre „Polen-Markt“? Nun ja, es gibt dies und das. Wie überall. Bei einer Krakauer-Wurst und einem alkoholfreien „Lech“ (scheußlich übrigens) belausche ich ein deutsches Paar, das überlegt, ob es in Stettin wohl genauso sei. Ja, ist es. „Turzyn Handlowe“. Nur kleiner.

Und in Görlitz ist eher nix. Und in Schwedt auch nicht. Aber in Hohenwutzen. Und in Küstrin. Also Kostrzyn.

Heute ganz ohne Frau Hiobs Hilfe ( z.B. in der legendären „Manufaktur“ in Stettin) erstehe ich allerlei fleischliche Genüsse. Ach, wieder zweideutig? Nein, es sind Schinken, Schweinelende und Knoblauch-Salami.

Oh. Da beschaut man jemanden genauer. Ich kann mich unbehelligt zwischen den Beamten durchmanövrieren. In meiner Plastiktüte vermutet man keine illegalen Migranten

Und es ist noch Zeit, die Fischerstraße, wieder zurück im deutschen Frankfurt, zu besuchen. Vaddern in Hamburg war am Morgen am Telefon bass erstaunt (Gruß an seppo) über meinen Früh-Trip in seine Geburtsstadt.

Zeitlebens dachte ich, er sei dort, wie es sich gehört, in irgendeinem Krankenhaus zur Welt gekommen.

MITNICHTEN!

Er weiß sogar die Adresse noch! Und fragt sich, ob das Haus wohl noch stehen mag. Seit Anfang 1945, als der kleine Steppke von der Royal Air Force nach Westen ausgeflogen wurde (danke übrigens!) war er nicht mehr dort.

Unfassbar. Und nun bin ich dort, nicht mal einen Kilometer entfernt.

Chronisten-Ehre, dass ich den Kult-Ort besuche.

Fischerstraße 50 also. Die Gasse ist sehr farbig aufgehübscht, vielleicht ist sie sogar eine der schönsten in Frankfurt. Aber hier ist erst Nr. 102. Etwas marschieren.

Da ist das Haus. 1945 von einem Bombentreffer übel zugerichtet. Da hat Vaddern also mal wieder mächtig Glück gehabt. Eine Tafel am Haus nennt das Baujahr 1909. Und die Sanierung 1996.

Ich mache Fotos für Vaddern. Es ist das einzige Haus in der Fischerstraße, das seine Geschichte mit einer Info-Tafel erzählt. Und schicke sie umgehend per Mail nach Hamburg.

Vaddern ist schwer bewegt.

Zum Bahnhof geht es bergauf, die Fischerstraße liegt sehr unten, am „Oderarm“.

Ziemliche Hitze heute. Für einen, der nur aufstand, um aus Langeweile mit dem 9-Euro-Ticket nach Frankfurt an der Oder zu fahren.

Es hat sich gelohnt.