Rentner-Stress – erst mal Urlaub

Im letzten Beitrag gab ich der Hoffnung Ausdruck, dass das „arbeitslose“ Leben hier unten nicht langweilig werden möge. Womöglich nur eine kurzzeitige nachdenkliche Phase.

Denn vieles spricht dafür, dass es nicht langweilig wird. Da wären erst mal die Zeitungen. Wieder bringt mir der Verlag mächtige Pakete ins Haus, die morgen auf ein paar andere Häuser verteilt werden müssen. Sogar die erste Lohnabrechnung nebst Überweisung gibt es schon.

Hopp, hopp! Anwohner warten

Es sind keine Reichtümer, reich ist man bekanntlich nur im Herzen. Aber eine immerhin zweistellige Summe. Dafür kann man ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen: Häuser, in denen überhaupt keiner öffnet. Das Fahrrad standsicher abstellen. Görlitz ist nicht nur vertikal schwer gebirgig, Teile des Fußwegs haben auch noch eine Querneigung. Und überfüllte Briefkästen. Diagnose: akute Verstopfung.

Eigentlich müsste man bei fast jedem dieser Briefkästen auf Verdacht den Notarzt alarmieren. Ein ganz bestimmter ist seit drei Wochen so „dermaßigst“ zugestopft, dass man hinter der Klappe nur auf eine stahlharte Masse Papier stößt. Kein Streichholz würde hier mehr reinpassen, schon gar nicht der „Wochenkurier“. Vielleicht werde ich hier einmal wirklich einen Rettungswagen sehen.

Doch es gibt auch nette Momente. Den „Post-Summer“ an manchen Häusern. Mächtige Briefkasten-Anlagen draußen, wo im Nu 16 Zeitungen weg sind. Die grüßende Postbotin, unterwegs zu „meinem“ Haus. Die dicke braune Katze, die vor Nr. 34 in der Sonne döst und immer seltsam abschätzig auf den Zeitungsstapel im Fahrradkorb guckt. Ein angebotenes Exemplar lehnt sie ab, Streicheleinheiten nicht.

Eineinhalb Stunden jeden Samstag. Für ein erfülltes „Rentnerleben“ reicht das natürlich nicht aus. Also mache ich mich eines Abends auf zur „Rabryka“. Zwei Tage zuvor hatte ich dort eine neue Stadtteilzeitung entdeckt. Und über die sollte nun informiert werden. Da kann man ja mal zuhören.

Irgendwas hatte ich vielleicht missverstanden. Der „Info-Abend“ stellt sich als „Redaktionskonferenz“ heraus. Vier Leute. Und ich. Oh.

Wir wissen ja schon, dass in Görlitz die Wege kurz sind. Und kurz gesagt: Seit jenem Abend bin ich Mitglied der Redaktion dieses neuen Kiez-Blattes. Da hatte die Einstellung beim Springer-Verlag vor nunmehr 34 Jahren doch etwas länger gedauert. Nun also wieder „was mit Medien“. Dieser unermüdliche Rentner.

Anders als für das Zeitungsaustragen brauche ich hier keine Genehmigung meines Noch-pro-forma-Arbeitgebers. Die Druckkosten des neuen Blättchens bezahlt die Stadt, die fähige Layouterin Ursula wie auch die Texter werkeln ehrenamtlich. Also auch ich.

Unter den Themenvorschlägen für die nächste Ausgabe ist dann auch die Vorstellung einer kleinen, feinen Mini-Brauerei bei mir um die Ecke. Genau deshalb (des kurzen Weges wegen, weswegen sonst?) reiße ich den Recherche-Auftrag an mich.

Der Besuch in der winzigen Eckhaus-Brauerei verläuft recht schmackhaft. Viel wichtiger aber: Vom Inhaber erfahre ich was Vertrauliches. Ein Mega-Scoop, der meine vier Mitstreiter in der kommenden Redaktionskonferenz von den Stühlen reißen wird! Und nun kein Wort mehr darüber. Es weiß noch niemand.

Cheffe braut. Und erzählt. Lecker

Der Bericht ist rasch verfasst. Seltsamerweise gibt es keine Längenvorgaben, man muss einfach schauen, was Ursula aus den Zeilen und meinen Fotos macht.

Ho, ich bin wieder dabei!

Zur Belohnung ein Weizenbier. Es ist natürlich nicht zu vergleichen mit dem aus der Mini-Brauerei, aber da kann ich nun auch nicht jeden Tag hingehen. Was soll der nette Inhaber denken?

Die etwas teurere, aber nazi-freie Kneipe hat noch nicht geöffnet, daher ein Durst-Besuch in einer anderen. DER anderen.

Ein Gast dort trägt das übliche schwarze Shirt, mit anderen Farben können diese Leute offenbar nichts anfangen. Außerdem präsentiert er stolz die Ziffer „74“ auf der Brust. Das könnten jetzt alles paranoide Vorurteile von mir sein. Warum soll er keine Ziffer zeigen? Andere, z.B. Fußballfans, haben ja auch die Nummer von Ronaldo oder Lewandowski am Körper.

Die Höhe der Zahl „74“ übersteigt die einer Fußballmannschaft aber um ein Vielfaches, so viel weiß ich sogar als Laie und Fußball-Muffel. Außerdem fiel mir an einem Hausfenster dieselbe hingeschmierte Ziffer auf. Ziemlich eckig, so wie wenn ein Dilettant ein Hakenkreuz versuchte, es aber nicht vollenden konnte.

Seit Monaten nicht entfernt. Pfui!

Und es ist – leider – nicht so abwegig, wie es klingt. Ähnlich wie die Zahl „88“ (Kürzel für die Buchstaben „HH“, denkt euch was dazu) ist auch die „74“ eine Art Code für diese … hmmm … Gruppierung hier. Sie symbolisiert die Buchstaben „G“ und „D“, was für diese Ewiggestrigen nichts weniger als „Großdeutsches Reich“ bedeuten soll.

Nun fragt man sich, wieso jemand in seiner Tumbheit solch Gesinnung in der Öffentlichkeit präsentiert. Und wenn es nur in einer einschlägigen Kneipe ist. Über Fußball-Trikots und Spielernummern kann man ja diskutieren, vielleicht auch streiten. Aber wie soll man mit solchen Typen reden? Es ist nur erschreckend peinlich, sich so zu outen. Da kann doch nicht viel Hirn oben drin sein?

Es erinnert an ein Erlebnis in Berlin-Charlottenburg. Wie immer muss ich mit dem Rad an der Otto-Suhr-Allee an der roten Ampel warten, als mich ein Mädel anspricht. Mit den einschlägigen dämlichen Prospekten.

„Das ist aber eine ungünstige Ecke, wo Sie stehen“, sage ich ihr.

„Wieso das?“

„Direkt vor der Scientology-Zentrale. Da denken doch alle, Sie gehören dazu.“

Klar versteht sie den Tarzan-Sarkasmus nicht.
„Aber ich gehöre doch dazu.“

„Ja, dann kann man Ihnen erst recht nicht helfen“, lache ich.
Passend wird die Ampel grün, ich radele weiter.

Und nun hänge ich in Görlitz mit ebenso Verblendeten. Die nicht begreifen, wie ihr Gehabe auf „normale“ Leute wirkt. Und sich nicht mal schämen.
Wenn ich unbedingt ein Nazi-T-Shirt tragen wollte, würde ich das gewiss nicht der Welt präsentieren. Im Gegenteil würde ich darauf achten, dass meine Jacke immer bis oben geschlossen ist. Damit niemand sieht, wes Geistes Kind ich bin.
Aber wahrscheinlich ist das völlig unlogisch. Oder das eine schließt das andere aus. Was weiß ich „Normalo“ denn schon?

Ich werde dann mal auf tschechisches Bier umsteigen. Morgen noch einen Berg Zeitungen austragen, dann geht es in einen Kurzurlaub. Tief hinein ins Sudetengebirge, wo unser gemeinsamer Grenzfluss, die Oder, entspringt. „Velka Bystrice“ heißt das der Restwelt unbekannte Dorf. Früher mal war es „Groß Wisternitz“, es liegt an der Straße von Olomouc nach Mährisch-Ostrau. Verzeihung, Ostrava.

So gesehen, unternehme ich eine Reise ins einstige „Großdeutsche Reich“.

Nicht, dass da jetzt wer auf falsche Gedanken kommt.

Ein Gedanke zu “Rentner-Stress – erst mal Urlaub

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